Keine Gnade für Hellfriede von Yvonne Liebscher

Klaaaaus! Klaaaaus! Er konnte diese Stimme nicht mehr ertragen. Nicht mehr lange. Vor vierzig Jahren hatte er den größten Fehler seines Lebens begangen und Anita geheiratet. Nein, Anita war ganz bestimmt nicht der Fehler, aber dieses Scheusal von einer Schwiegermutter, dass er mit geheiratet hatte. Solange ihr Mann Kurt noch am Leben war, musste hauptsächlich er unter Hellfriedes Launen leiden.
Nun hatte sich Kurt klammheimlich eines Nachts davongestohlen. Er war einfach mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Jetzt hieß ihr neues Opfer Klaus. Ständig hatte sie etwas zu reparieren, dann war es nicht richtig und alle anderen könnten es ja sowieso besser.
Klaus hatte mehr als einmal bereut, in das Haus seiner Schwiegereltern eingezogen zu sein. Seiner Frau zuliebe erduldete er alles und spülte seinen Ärger mit ein paar Bier herunter. Manchmal gönnte er sich auch einen Wilthener Kräuterlikör, den er sorgfältig in seinem Hobbyraum versteckt hatte.
Seit seinem Einzug in das alte Umgebindehaus verbrachte er viel Zeit auf dem Dachboden. Er hatte nach der Wende eine neue Heizung einbauen lassen und so war nun auch sein Rückzugsort behaglich warm. Früher als Schlafzimmer genutzt, baute sich Klaus die geräumige Dachkammer für sein Hobby um. Er konnte stundenlang an seiner Eisenbahn basteln oder einfach nur aus dem Hecht, dem langgezogenen Fenster in der Dachgaube, starren und an nichts denken.
Hier oben hatte er seine Ruhe, weil Hellfriede nicht mehr die Treppe hinauf konnte. Seit ihrem Oberschenkelhalsbruch war sie nicht mehr so gut zu Fuß, dafür noch unausstehlicher.
Seine Eisenbahn gab ihm die Möglichkeit, abzuschalten, nette Leute im hiesigen Eisenbahnverein zu treffen, ohne, dass sich jemand beschweren konnte, wenn es wieder einmal spät wurde. Seine neue Landschaft faszinierte seine Mitstreiter, vor allem die Idee, ein Hintertürchen in den Berg zu installieren, in den bequem eine Flasche Schnaps und ein paar Gläser passten.
„Wozu die Berge der Oberlausitz gut sind!“, damit hatte er die neueste Errungenschaft seinen Eisenbahnfreunden präsentiert. „Musst ja auch nicht immer nur darauf herumwandern!“, antwortete Horst mit einem verschwörerischen Blick und sie prosteten sich zu.
„Wenn das Hellfriede wüsste!“ Klaus grinste in sich hinein. Nein, alles wusste die alte Hexe nicht. Auch seine Frau ahnte nichts davon. Das war reine Männersache.
Klaus war nun seit einem halben Jahr in Rente und verbrachte viel Zeit damit, seinen täglichen Spaziergang über die Horke zu absolvieren und die schöne Aussicht in die Natur zu genießen. Danach verkroch er sich in seien Hobbyraum und bastelte an seinem Schienenimperium. Bloß nicht in Hellfriedes Hörweite kommen. Irgendjemand hatte Hellfriede mal Elfi genannt. Mit einer Elfe hatte die so wenig zu tun, wie Baba Jaga mit dem Kalendermädchen aus dem Bautzener Wochenblatt .
Er wartete täglich darauf, dass seine Anita endlich von der Arbeit nach Hause käme, aber meist schaffte sie es nicht, pünktlich Feierabend zu machen. Noch zwei Jahre dauerte es bis zur Rente. Noch zwei Jahre schnitt und färbte und föhnte sie im Nachbarort den Leuten die Haare.
Die standen Klaus plötzlich zu Berge. „Klaaaaus!“
Wie kam Hellfriede auf den Boden? Sie schlug mit ihrer Gehhilfe auf die Treppenstufen, dass es nur so knallte. Klaus rührte sich nicht. „Ich bin überhaupt nicht da. Gar nicht im Haus. Bloß nicht bewegen!“, dachte er sich und verharrte stillschweigend auf seinem bequemen Bürostuhl. „Wenn sie die Treppen raufgekommen ist, soll sie doch sehen, wie sie wieder runterkommt.“, fluchte Klaus in sich hinein und ärgerte sich, dass nun seine teure Kunststoffmasse, die er gerade für die neuen Gussfiguren angerührt hatte, sinnlos hart wurde.
Er hörte ein schleifendes und ein polterndes Geräusch und ein lautes Fluchen und dann kehrte himmlische Stille ein.
Nach einer ganzen Weile klopfte es an der Tür und Anita steckte den Kopf hinein. „Hast du Mutti gesehen? Sie ist nicht in der Küche und in der Stube auch nicht!“ Ihre Stimme klang besorgt.
Hellfriede war mit ihren 85 Jahren nicht mehr die Jüngste und mitunter schon etwas zerstreut. Erst gestern erst gestern hatte sie ihre Zahnreinigungsdose im Kühlschrank gefunden und die Brille lag im Brotfach.
Anita suchte nach dem Mantel ihrer Mutter und den Schuhen, die sie draußen trug, konnte aber nur den Mantel entdecken. Nun machte sie sich wirklich Sorgen. Ihre Mutter ging nie allein aus dem Haus.
Hektisch lief Anita zu den Nachbarn, aber niemand hatte etwas von Hellfriede gesehen oder gehört. Sie hetzte den Berg hinauf zum Friedhof, um die Mutter vielleicht am Grab des Vaters zu finden, aber auch dort war sie nicht.
Wieder zu Hause angekommen, beschloss Anita, die Polizei zu verständigen. Vielleicht verlief deren Suche erfolgreicher.
Im Kopf von Klaus spukten die wildesten Gedanken herum. Hatte nicht der Bauer etwas von einem fast vollständig aufgefressenen Schaf erzählt? Waren die Wölfe schon auf dem Vormarsch in das dörfliche Idyll? Hellfriede wäre nicht die erste Großmutter, die vom Wolf gefressen worden war. Aber Klaus sah vor seinem geistigen Auge nur seine Schwiegermutter, die mit ihrem lauten Organ und ihrem Stock ein Rudel Wölfe vertrieb.
Das konnte es also auch nicht sein.
Anita rief bei Hilde an, einer langjährigen Freundin ihrer Mutter, und erkundigte sich, ob sie etwas wüsste, aber Hilde zeigte sich sehr bestürzt über Hellfriedes Verschwinden und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich zu Fuß irgendwo hin begeben haben könnte.
Anita saß verzweifelt auf dem Küchenstuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. Klaus setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. „Wer weiß, was sie sich ausgedacht hat. Vielleicht ist sie wirklich irgendwo in der Nähe und weiß gar nicht, was sie uns für einen Schrecken einjagt.“
Zwischen Anitas Händen tropften ein paar Tränen auf Klaus und er grübelte ernsthaft darüber nach, was in Hellfriedes Kopf vorgegangen sein kann.
Er stand auf und ging ins Wohnzimmer. An der Stelle, wo sonst sein Flachbildschirm stand, befand sich nichts mehr. Auch die Stereoanlage fehlte. Hellfriede wird das Zeug ja nicht heimlich verhökert haben, dachte er noch bei sich, als er sich an das schleifende und polternde Geräusch und an die Rufe erinnerte.
„Bei uns wurde eingebrochen und wahrscheinlich haben die deine Mutter mitgenommen!“, rief Klaus in die Küche. Anita sprang mit einem Satz auf. „Was sagst du? Eingebrochen?“
Klaus erklärte, dass der Fernseher und das Radio fehlten und erzähle von den Rufen und den Geräuschen.
Als die Polizei eintraf, erfuhren auch sie gleich, was im Haus passiert war. Sie suchten nach Fingerabdrücken und Einbruchsspuren, aber es gab keine Spuren. Alles war blitzsauber und auch Fenster und Türen hatten keinen Schaden genommen. Hellfriede musste die Einbrecher hereingelassen haben und nun ist sie mit den Elektrogeräten verschwunden.
„Was Hellfriede wohl auf dem Schwarzmarkt noch bringen würde?“ Klaus schämte sich ein bisschen für seine Gedanken, aber er konnte auch nichts dafür.
Er hatte bei dem ganzen Durcheinander vergessen, dass er sich eigentlich noch ein Bier aus dem Schuppen holen wollte und entschuldigte sich kurz bei den Polizisten.
Plötzlich zuckten diese erschrocken zusammen. Diese Stimme ließ sie zusammenfahren.
„Klaaaaus! Wird ja auch Zeit, dass du mich hier aus dem Schuppen holst! Der nette Mann von vorhin hatte mich um ein Glas Wasser gebeten, junge Frau hat er zu mir gesagt, und als ich die Flasche aus dem Schuppen holen wollte, da muss jemand die Schuppentür zugeschlossen haben. So lieb, wie der junge Mann mich gebeten hat, konnte ich es ihm doch nicht abschlagen, das Wasser zu holen. ER hat mich bestimmt nicht eingesperrt! Klaus??? “
„Auf die Idee, Hellfriede in den Schuppen zu sperren, hätte ich auch selber kommen können.“ Klaus kratzte sich nachdenklich am Kopf. Es bleibt also doch alles beim Alten.
Nun erfuhr Hellfriede vom Einbruch und davon, dass es der nette Mann gewesen sein musste, dem sie das Glas Wasser geben wollte. Wenigstens konnte sie ihn beschreiben, so dass die Polizei einen Anhaltspunkt hatte, nach wem sie suchen musste.
Erleichtert war nur Anita, die endlich ihre Mutter wohlbehalten in die Arme schließen konnte.
Klaus beschloss, an seine Eisenbahn- Landschaft noch einen schönen Schuppen anzubauen. Wer weiß, welches Geheimnis darin einen sicheren Platz findet.

Yvonne Liebscher, 53 Jahre

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