Das Leben ist ein ständiger Wandel. Pflanzen wachsen, tragen Blüten, bringen Früchte und vergehen. Eine Begebenheit, die Alma Weidemann mit ihren 28 Jahren nicht auf sich bezogen hat. Als freischaffende Künstlerin erkämpfte sie sich ihr täglich Brot. Seit 10 Jahren lebte sie in einer maroden Singlewohnung in Leipzig. Der grüne Ausblick in den ruhigen Hinterhof war ihr wichtiger, als städtischer Komfort. Damals wollte sie ihrer Familie und ihren eingebrannten Strickmustern entkommen. Nun war es die urbane Enge vor ihrer eigenen Haustür, der sie versuchte zu entfliehen. Die Aufträge schrumpften. Selbst größter Zwang und Arbeitseifer spiegelten ihren Missmut wider. Nach außen hin zeigte sie Stolz und missbilligte öffentlich Arbeiten ihrer Kollegen, doch ihre Fassade bröckelte. Die Nacht wurde ihr einziger Freund und hätte sie sich nicht einmal wöchentlich gezwungen, ihre Kammer für ein paar Schritte in den „Späti“ zu verlassen, dann wäre sie verhungert. Anfangs war sie fasziniert von den Blickwinkeln, die sich ihr täglich eröffneten, sie auf Leinwand zu bannen. Heute hatte sie nur den Gedanken, sich mit der kalten, stählernen Straßenbahn und deren Schienen zu verknoten. Niemand würde sie vermissen. Gedankenverloren kehrte sie in ihren Kokon zurück. Auf dem Boden hinter der Tür lag ein Brief, der sie höhnisch anstarrte. Hatte es deshalb vergeblich geläutet? War sie interessant? Ihre Auftraggeberin war eine ihr bekannte Stimme aus ferner Vergangenheit. Frau Vogel, Landärztin, die seit Jahren auch eine schwer gefragte alternativmedizinische Praxis in Leipzig besaß, hatte schon damals in Krostitz einen prägenden Einfluss auf die unentschlossene Alma. Bei jedem seltenen darauffolgendem Treffen faszinierte sie ihre Vitalität. Alma widderte eine Chance, eine neue Bildreihe zu komponieren und gleichzeitig Ihren finanziellen Notstand aufzupäppeln. Die nahende Herausforderung ließ euphorisch ihr Blut pulsieren. Die Krostitzer Praxis sollte mit Motiven rund um das kleine Dorf künstlerischen Flair erhalten. „Wer, wenn nicht Du, Alma, kann hier Unvergessenes schaffen“, las Alma Frau Vogels Worte und Labsal legte sich über ihre müde Seele. Die Straßenbahn dröhnte. Das Morgenrot drang an diesem Maimorgen in ihr Fenster. „Durchgeschlafen, seit Ewigkeiten durchgeschlafen“. Kurze Zeit später saß sie im Zug. Ohne die Ärztin zu benachrichtigen, verließ sie die Haltestelle in den nahegelegenen Wald. Mit diesem Gemälde begann die Reihe. „Der Tempel“, ein geheimnisvoller Ort, der Nostalgie und Sensibilität in ihr erweckte. Die alten Schnitzereien in der Buche, ließen sie die Gegenwart Johannes‘, ihres besten Freundes spüren. Sie schrie, bat Gott um Erbarmen. Durch ihre gläsernen Augäpfel sah sie eine schmale, ganz weiße Buche und erschrak. Da stand ein abgemagerter Mann und beobachtete sie! Wie lange schon? Prickelnde Angst durchzuckte Alma. Seine Augen fesselten die ihre. Widerwillen und Sehnsucht kämpften in ihr. „Das ist ambivalent!“. Eilig lief sie zu ihrem Koffer und breitete starr alle Malutensilien vor sich aus, als sie plötzlich eine ruhige Hand auf Ihrem Scheitel spürte. „Amy, bist Du es?“. Ein nie gekanntes Gefühl der Wärme durchfuhr Alma. „Hannes, DU bist es?!“. Johannes, der nur wenig älter war, wuchs als Nachzügler einer Großfamilie im benachbarten Bauernhof auf. Frühzeitig hütete er den innigen Wunsch, Erzieher zu werden. Die erste ernstzunehmende Beziehung erlebte er mit der gebürtigen Schwedin Helen. Sie waren perfekte Kollegen in einem Kindergarten, der in Leipzigs Speckgürtel expandierte. Von wohlhabenden Eltern verwöhnte Kinder mit einer gesunden Strenge trotzdem liberal zu erziehen, war Johannes‘ Passion geworden. Während Helen Gefühle vermisste, suchte Hannes nach etwas Anderem. Überfordert mit dem Heiratsantrag Helens und der Diagnose „Krebs“, zog er von dannen. Alma war fassungslos, als sie den mit Narben bedeckten Johannes freudig ins Wasser springen sah. Sie sann Erinnerungen nach. Sogar die alte Schaukel hing noch am Ast neben ihr. „Hannes! Johannes!“, schrie sie wie vom Blitz getroffen. Er war weg, nirgends im Wasser zu sehen. Ohne sich zu entkleiden, sprang sie in das eiskalte Wasser. In Panik tauchte sie immer wieder nach ihm und ihr schwer gewordenes Kleid machte ihr Not, als jemand plötzlich ihre Taille umfasste und sie nach oben zog. „Warum denn so panisch?!“, grinste Hannes schadenfroh. Hysterisch schlug sie aufs Wasser und schrie ihn wütend an. Er blickte entzückt in ihre blau-grünen Augen und nahm ihr zierliches Gesicht in seine schützenden Hände. „Ich werde nicht sterben und Du bist auch nicht umsonst hier, denn weißt Du…“ „…Was? Was soll ich wissen?“. „Gott ist mit uns“. Alma, noch immer vom Wasser umgeben, erinnerte sich. Hier wurden sie beide getauft. Sie nahm wortlos ein paar Tropfen und malte ihm ein Kreuz auf die Stirn. Die heilige Stille wurde von einem schrillen, unnatürlichen Ton unterbrochen. Hannes sprang aus dem Wasser und griff nach seinem Handy, um damit etwas abseits hinter einer der mächtigen Tempelbuchen zu verschwinden. Ein paar wärmende Sonnenstrahlen fielen durch das Laub auf Almas hungriges Gesicht. Sie atmete tief nach dem langen Winterschlaf, dem Lichtstrahl vor sich nachgehend, machte sie eine Entdeckung: Ganz versteckt unter morschen Zweigen sah sie drei Blüten. Eine blau, eine rose‘ und die dritte weiß wie eine Turteltaube. Soeben begriff sie die luziden Zusammenhänge ihres Schicksals und sah sie einsichtig vor ihrem inneren Auge. Ihr Herz war offen wie das Meer. Sofort wollte sie zu Hannes rennen. Aber er kam ihr mit der gleichen Euphorie entgegengelaufen und sagte mit strahlenden Augen: „Ich bin gesund“. Alma legte sanftmütig den Arm um ihn, und während beide barfuß über den warmen Waldboden liefen, brachte sie seinen Satz zu Ende „Und zu dritt werden wir dafür sorgen, dass es so bleibt!“. Hannes schaute sie erschrocken und fragend an.“Du, ich und Gott,unser Vater.“ Sie wusste, ihr Leben wird von nun an ein Anderes. Sie wird malen können, lieben und Liebe empfangen, Menschen erkennen und verzeihen. Schmerzen erdulden, ohne zu leiden. In der darauffolgenden Nacht träumte sie von einer großen Ausstellung in einer irischen Provinz. Sie war die Bejubelte. Ein alter Mann weinte beim Anblick ihrer Bilder. Etwas abseits saß, ihr zärtlich zulächelnd, ein magerer Mann mit einem Baby im Arm. „Vergiss uns nicht!“, flüsterte er ihr mit stolzer Mimik zu.
Michelle Lenz, 17 Jahre