Zwei Männer in Betrachtung des Mondes von Sylvia Locke

In Anlehnung an: „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ von Caspar David Friedrich

Der steinige, schmale Weg schlängelte sich noch viel länger durch die hohen, schwarzen Tannen, doch sie folgten ihm nicht weiter. Bis hier hin zu gelangen war schon schwer genug. Sie fühlten sich alt und schwach, so wie die ehrwürdige, betagte Eiche, deren morsche, zerfurchte Wurzeln halb aus der Erde ragten und den mächtigen Baum nur noch mit Mühe hielten. Aber sie stand noch. Am Wegesrand, dort wo der Ausblick am schönsten war. Dort, wo sie schon als Kinder innehielten und bei Tageslicht die wilden Tiere beobachteten, die bunten Blätterdächer mit ihren einfachen Malfarben nachzeichneten und dabei dem Gesang der Vögel lauschten. Oft versteckten sie sich unter den Wurzeln, die ihnen so riesig vorkamen, und lauschten den Geräuschen des Waldes. Immer in der Hoffnung, dass sie die Stimme der alten Eiche hörten, so wie es die Geschichte besagte, die die Leute im Dorf erzählten. Es war eine Liebesgeschichte, die sie faszinierte, die sie aber auch nicht so recht glauben wollten.
Man erzählte sich, dass sie einst ein wunderschönes Mädchen war, das von einer eifersüchtigen Hexe in eine Eiche verzaubert worden war. Auch den Prinzen, der das Mädchen heiraten wollte, verhexte die Alte und nahm ihn mit in ihr Reich. Keiner wusste, wo er abgeblieben war. Es hieß jedoch, dass er der bösen Hexe entkommen konnte. Seit dieser Zeit hörte man, wenn man ganz aufmerksam war, das Flüstern der Eiche, die ihren Liebsten rief. Das Bemerkenswerteste an dieser Geschichte war aber, dass erzählt wurde, die Eiche träfe ihren Liebsten meist nachts und sie wären wieder vereint.
Es gab für sie damals nur eine Möglichkeit, dem genau auf den Grund zu gehen. Mutig schlichen sie sich leise mitten in der Nacht zu der Eiche und krochen unter das moosige Wurzeldach. Auf dem Weg dahin stolperten sie und schlugen sich ihre Knie auf. Doch die Schmerzen waren ihnen in dem Moment egal. Sie hatte die pure Abenteuerlust gepackt. Beide bekamen vor Aufregung kein Wort heraus.
Langsam schlich sich die kalte, feuchte Nachtluft in ihre Kleidung und ließ sie frösteln. Die Dunkelheit umklammerte hartnäckig jeden Strauch und jeden Baum, doch langsam gewöhnten sich ihre Augen daran. Noch immer schweigend hockten sie stundenlang in ihrem Versteck und spähten in den nächtlichen Wald. Ihre Herzen pochten bis zum Hals, so stark, dass sie dachten, man könnte sie von Weitem hören. Ein Waldkauz hatte ganz in der Nähe sein Revier und er machte schreiend deutlich, dass er es auch nicht hergeben würde. Oft erschraken sie, wenn sein spitzer Ruf die Stille durchbrach. Frierend zitterten sie unter der Eiche, aber sie hörten keine Stimme. Sie sahen auch keinen Prinzen. Es war einfach ernüchternd. Enttäuscht und müde machten sie sich kurz vor der Morgendämmerung auf den Heimweg, damit ihre Eltern nicht merkten, dass sie die ganze Nacht nicht zu Hause waren. Aber sie hatten Glück. Niemand hatte etwas bemerkt und so beschlossen sie, die alte Eiche noch einmal nachts zu besuchen. Doch sie wurden wieder enttäuscht. Alles, was sie sahen, waren Tiere, die ihnen mit ihren scharrenden und schnaubenden Geräuschen Angst einjagten. Wie oft sie letztendlich unter den Wurzeln hockten, konnten sie gar nicht mehr zählen. Jedoch hörten sie nie Stimmen und auch der Anblick eines Liebespaares blieb ihnen verwehrt. Dafür hielten die unzähligen Nächte ihnen viele unvergessliche Eindrücke bereit. Sie hatten von Mal zu Mal mehr Spaß daran, aus ihrer sicheren Deckung den Wald mit all seinen faszinierenden Lebewesen zu beobachten. Was ihnen anfänglich noch gruselig erschien, war bald nicht mehr fremd und sie wussten bei jedem Geräusch, welches Tier an ihnen ahnungslos vorbei ging. Es war eine wundervolle Zeit. Nie erlebten sie die Natur intensiver als damals. Warme Sommernächte, nasskalte Herbstnächte, vereiste weiße Winternächte und dunkle verregnete Frühlingsnächte lehrten sie, die Geheimnisse des Waldes zu verstehen. Respektvoll und wissbegierig erforschten sie die Welt, die ihnen zu Füßen lag und es entstand eine enge Verbundenheit mit ihr. Aber nicht nur das. Auch die beiden Freunde wurden unzertrennlich. Scheinbar hatte die alte Eiche ihre Seelen, während sie unter ihr hockten, mit ihren Wurzeln zusammengebunden, sodass sie sich nie verlieren konnten.
Die Zeit verging und sie mussten sich trennen. Kriege herrschten, Armut und Hunger thronten über allem. Das Land wurde verwüstet und sie sahen viele Menschen sterben. Sie lernten das Leben mit all seinen Facetten kennen und es hinterließ tiefe Spuren an ihnen. Aber sie überlebten.
Es dauerte fast ein ganzes Leben, bis sie sich wieder trafen, aber es war sofort wieder da. Das magische Band, welches die Eiche einst um ihre Seelen geschlungen hatte und ihnen das Gefühl gab, das nichts und niemand zwischen ihnen stand. Noch einmal wollten sie zu der alten Eiche gehen. Nachts. An den Ort, der ihnen in der Kindheit so viel bedeutete, der ihnen die Angst nahm und sie zu unzertrennlichen Freunden machte.
Sie blickten in den schönen Nachthimmel, von dem Ort aus, der die schönste Aussicht bot. Und als sie den Mond erblickten, wie er sich langsam der wunderschönen, alten Eiche näherte, hörten sie plötzlich die Stimme. Die Stimme der Eiche, die ihren Liebsten zu sich rief.

Sylvia Locke 

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