Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Mathematik. Nicht gerade ihre Stärke. Dazu noch Geometrie. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch 34 Minuten warten musste. 34 Minuten. Die Stimme ihres Lehrers blieb monoton und langweilig, egal wie sehr sie versuchte, sich das Gegenteil einzureden. Mit der Zeit wurde sie schläfrig, und ihr Kopf schwer. Ihre Gedanken schweiften ab. Als ihr Name fiel, zuckte sie zusammen und schaute ihren Lehrer fragend an. So erntete sie einen weiteren warnenden Blick an diesem Tag. Mit entschuldigender Miene widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Aufgaben. Doch ihre Konzentration blieb nicht lange bestehen. Noch 21 Minuten. Sie richtete ihren Blick auf den Jungen zwei Bänke vor ihr. Es war, als schlüge ihr jemand mitten in den Magen. Alles in ihr zog sich zusammen. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass ihr Kopf jederzeit bersten könnte. Automatisch senkte sie ihn. Sie hatte Angst, jemand könnte sehen, wie nahe sie den Tränen war. Innerlich versuchte sie sich zu beruhigen. Versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, schaffte es jedoch nicht. Kurz beherrschte sie sich, um ihren Lehrer nach einem Toilettengang zu fragen.
Mit einem Finger fuhr sie sein Kinn entlang, die Wange hoch, bis zu seinen himmelblauen Augen. Sie kamen sich näher. Immer näher.
Sie blinzelte, und sah ihr Spiegelbild. Braunes, schulterlanges Haar, gerötete Wangen, eine spitze Nase und ein Paar schokobraune, verheulte Augen. Sie riss sich von diesem Bild los
und versuchte klar zu denken. Es war einfach zu schmerzhaft. Ein ungreifbarer Schmerz. Er kam und ging unkontrolliert. Sie schüttelte sich. Mit zitternden Händen drehte sie den Wasserhahn auf und wusch ihre Tränen weg. Die roten Augen blieben. Noch ein Blick in den Spiegel und sie verließ die Toiletten. Im Klassenzimmer verriet ihr die Uhr, dass sie sich noch 12 Minuten gedulden musste. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Flasche und ihr Kopf klärte sich ein wenig. 10 Minuten. Mit einem Bleistift zeichnete sie kleine Kreise in ihren Mathematikhefter. Die Zeit verging schleppend. Nach jeder weiteren geschafften Minute machte sie einen Strich. 5 Minuten. Jede Sekunde wurde zur Qual. Sie hätte ganz woanders sein, und ihre Zeit mit Nachdenken verbringen können. Sie konnte sich so oder so nicht auf den Unterricht konzentrieren. 4 Minuten. Sie fing an ihre Gedanken aufzuschreiben. 3 Minuten. Sie zerriss den Zettel und macht Kügelchen aus den Teilen. 2 Minuten. Die Kügelchen wurden nun zu einem Haufen zusammengeschoben. Eine Minute. Sie fing an, ihre Sachen einzupacken. Der Sekundenzeiger schlug auf die 12 um. Die Schüler strömten wie ein Schwarm Fische aus dem Zimmer. Sie schloss sich ihnen an. Die Kügelchen achtlos neben dem Bleistift auf dem Tisch liegen lassend. Von hinten wurde sie von ihrer Freundin angetippt. Mit einem Blick über ihre Schulter registrierte sie dies und setzte ihr schönstes falsches lächeln auf. Ihre Freundin plapperte wie ein Wasserfall, doch sie brachte nur gepresst ein paar Sätze hervor, während sie sich auf den Weg zum Busplatz machten. Dort angekommen setzten sie sich auf den steinernen Boden. Mit ihrem aufgesetzten Lächeln, fischte einen Stift aus ihrem Rucksack und stach ihrer Freundin spielerisch in den Arm. Der Bus kam, und die beiden Mädchen stiegen ein. Schweigend verbrachten sie die Busfahrt in ihre Sitze gedrückt. Ihr Gedankenfluss jedoch schwieg nicht. Nein. Das tat er in keinster Weise. Ihre Gedanken kamen, gingen, überschlugen sich, vermischten sich, waren leise, laut, hell, dunkel, aufdringlich oder auch zurückhaltend. Die Häuser und Straßen zogen verschwommen an ihr vorbei. Auch die Geräusche wurden zu einem einzigen Rauschen. Ihren Wunsch, sich einfach in ihr Bett zu schmeißen und ihre Tränen im Kopfkissen zu versenken wurde nicht erfüllt. Die Stimme ihrer Freundin riss sie aus ihren Gedanken. „Warum weinst du?” Erschrocken wischte sie mit ihrer Hand über ihr Gesicht. Tatsächlich. Sie weinte. Sie weinte, und konnte nicht aufhören.
Ihr Gesicht in die Kleidung ihrer Freundin gepresst, erzählte ihre dumpfe Stimme, was sie fühlte. Zusammen stiegen sie aus dem Bus aus und setzten sich auf eine Bank, um sich zu unterhalten. Einfach nur unterhalten. Eine erleichternde Unterhaltung. Gefühlvoll, Emotional und so erleichternd. Ein einfaches Gespräch, vor welchem sie sich so sehr gefürchtet hatte.
Zu Hause wurde sie von dem übermütigen Bellen ihres Hundes begrüßt. Lächelnd fuhr sie mit ihren Fingern durch sein langes, verwuscheltes Fell. Die drückenden Kopfschmerzen waren erträglicher geworden, weg waren sie jedoch noch lange nicht. Sie trottete in ihr Zimmer und begann sofort mit ihren Hausaufgaben. Auch bei ihnen wich ihre Konzentration schon nach kurzer Zeit. Lange starrte sie die einzelnen Buchstaben und Zahlen an, ohne dass sie sich in ihrem Kopf zu Wörtern und Formeln formen konnten. Schließlich gab sie auf, und nahm sich vor, das alles später zu erledigen.
Sie wachte auf und folgte ihrer morgendlichen Routine. In der Schule wartete sie ungeduldig auf die Pause. Ihre Hausaufgaben hatte sie vergessen. In der Pause setzte sie sich zu ihrer Freundin, welche sie wissend anlächelte. Auch an diesem Tag ließ sich ein ausführliches Gespräch nicht vermeiden. Die Zeiger der Uhr bedeuteten ihr, dass sie sich langsam auf die nächste Stunde vorbereiten sollte. Auf dem Weg zu ihrem Spind, wurde sie von hinten angetippt. Sie drehte sich um und blickte in sein Gesicht. „Ist das deiner?” fragte er ganz einfach und hielt ihr ihren Bleistift hin. Sie starrte den Jungen an, ohne ein Wort herauszubringen. Das war der erste Satz von ihm, der einzig ihr galt. Er war nur an sie gerichtet. Dieser eine Satz.
Konstanze Lucas, 14 Jahre