Die Diagnose von Kitty

Die Rollen meines Koffers kämpfen sich ihren Weg über das holprige Kopfsteinpflaster, als ich sie in Richtung Promenade dirigiere. Ein mitleidserregendes Quietschen verdeutlicht mir, dass sie nicht begeistert von meinem Vorhaben sind. Koffer wie diese gehören auf asphaltierte, ebene Straßen einer Großstadt.
Ich biege ab, in Richtung Ufer, während ich an einem kleinen Häuschen mit leuchtend gelben Ziegeln vorbeikomme. Die Fenster der ehemaligen Eisdiele sind provisorisch mit Brettern zugenagelt worden. Vor dem Gebäude steht noch immer eine Anzeigetafel, die mit hausgemachtem Schlumpfeneis wirbt. Nun wurden die bunten Bildchen jedoch von hässlichen Graffitis übersprüht.
Mein Koffer ruckelt nun über die morschen Holzleisten des Promenadenweges. Eine Hinweistafel warnt davor, dass das Wasser aufgrund Verunreinigungen nicht zum Baden geeignet ist. Nicht mehr.
Spielt eh‘ keine Rolle, denke ich bitter und stakse auf meinen Stöckelschuhen weiter. Bei jedem Schritt versinken sie einen Millimeter tiefer im Sand. Ich habe sowieso keinen Bikini eingepackt.
Bunte Richtungspfeile weisen mich darauf hin, dass ich kurz davor bin, mein Ziel zu erreichen. Spontan sein ist eigentlich nicht meine Stärke, aber nach dem Desaster in der Firma und der dicken Luft in den eigenen vier Wänden brauchte ich Abwechslung von sterilen Wänden und akribisch sauber gehaltenen Hotelzimmern.
Ich folge den Pfeilen. Sie führen mich zu einem Spielplatz, der sichtlich in die Jahre gekommen ist. Er besteht aus einem kleinen Piratenschiff, zu dessen Bullaugen ich bis zu meinem neunten Lebensjahr immer in das Innere geklettert und in meine Fantasiewelt abgetaucht bin. Das vom Schiff zum Ufer verlaufende Klettergerüst habe ich damals nie bewerkstelligen können – aber mit dieser Erkenntnis bin ich immer zu Recht gekommen. Ich kann nicht gut klettern, aber dafür kann ich anderes gut!
Ich kann gar nichts, korrigiere ich mich schnippisch.
Ich habe einen schlecht bezahlten Job, bei dem ich den ganzen Tag um jeden Kunden kämpfen muss und mir trotzdem am Ende von meinem Chef anhören kann, die Konkurrenz schliefe nie und mein Kollege würde die selben Aufgaben in doppelter Geschwindigkeit ausführen.
Ich habe einen Freund, mit dem ich damals vollkommen überstürzt zusammengezogen bin.
Fehler. Immer mache ich Fehler!
Mein Schuh versinkt immer tiefer im Sand, wodurch ich erneut den Halt verliere. Mit einem wütenden Schnauben ziehe ich sie und bewege mich barfuß auf das Ufer zu. Nach wenigen Sekunden des Zögerns lasse ich mich vorsichtig auf den Boden sinken, wobei ich darauf achte, meinen neuen Designerrock nicht dreckig zu machen. Es sitzt sich nicht wirklich bequem und als mir der Bund beginnt unangenehm die Luft abschnüren frage ich mich, warum ich nicht auf die Empfehlung der Verkäuferin geachtet habe und die Größe 36 genommen habe.
Ich starre auf das Meer, das sich in der abendlichen Brise leicht auf und ab bewegt, als folge es einer sanften Melodie. Die untergehende Sonne spiegelt sich in dem Wasser und taucht es in eine Vielzahl von Rot- und Orangetönen. Nach und nach spüre ich, wie das Pochen in meinen Schläfen nachlässt.
„Es war keine Fehlentscheidung, hierher zu kommen“, stelle ich leise fest und schließe die Augen, um das beruhigende Rauschen der Brandung vollkommen in mich aufnehmen zu können. Ich brauchte diese Auszeit. Die letzten Tage waren die reinste Qual. Und dann noch dieser Arztbesuch, der mich vor völlig neue Tatsachen stellte und die schon lange tickende Zeitbombe zum Platzen brachte.
Dieser Ort ist meine Vergangenheit.
Er erinnert mich an die unbeschwerte Zeit, in der ich gemeinsam mit meinen Eltern hier Urlaub machte. Wie schön damals alles gewesen ist. Und nun?
Ich bin nicht mehr das sorglose Mädchen mit den unordentlichen zwei Zöpfen, das sich keinen Hehl um ihr Aussehen gemacht hat. Mir ist es egal gewesen, was andere über mein abgetragenes und dennoch funkelndes Prinzessinnenkleid sagten, dessen Saum sich bereits in seine Einzelteile auflöste.
Früher trug ich immer die übergroßen Gummistiefel meiner Großmutter, die mir leider viel zu wenig Zeit geschenkt hat, um sie über ihre eigene Kindheit ausfragen zu können. Ich trug die knallgrünen Gummistiefel überall: in der Schule, zum Sonntagsausflug mit meinen Eltern oder auf Geburtstagen.
Einst konnte ich an der nun heruntergekommenen Eisdiele nicht vorbei gehen, ohne mir ein blaues Schlumpfeneis zu holen, das mir mit einer hohen Sicherheit auf dem Weg zum Spielplatz wieder heruntergefallen wäre.
Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich beim Spielen an diesem Ort alles um mich herum vergessen konnte. Meine größte Sorge ist es gewesen, einen Schuh von meiner Lieblingsbarbie zu verlieren.
Heute bin ich wohl diese Barbiepuppe.
Ich folge jedem Trend, der in den Modemagazinen steht, möge er noch so unkomfortabel sein. Hauptsache, ich kann mein Umfeld davon überzeugen, dass ich eine attraktive und finanziell gut aufgestellte Frau bin.
Ich verzichte auf bequeme Schuhe, schließlich ist es notwendig, einen äußerlich makellosen Eindruck zu liefern. Zum Glück sieht niemand die dicken Blasen, die sie an meinen pedikürten Füßen hinterlassen.
Ein Schlumpfeneis passt ebenfalls nicht in das Idealbild der Frau. Verschwendete Kalorien, die mir Wohl oder Übel wieder Zusatzstunden im Fitnessstudio einbrocken würden. Nicht auszudenken, was die Leute über diverse Speckpölsterchen sagen würden, die sich möglicherweise an irgendwelchen Zonen meines Körpers anlagern könnten. Ich möchte doch keine Größe 36 kaufen müssen!
Und nicht auszudenken, würde ich mir einmal eine Auszeit gönnen. So etwas lächerliches, wie einen Spielplatz zu besuchen, ist doch eine reine Verschwendung der Zeit.
„Lächerlich“, murmele ich und öffne die Augen wieder. Wie schnell die Sonne doch vom Horizont verschwunden ist. „Einfach lächerlich. Diese Ideale…“
…mehr Arbeit, als Genuss. Mehr Zwang, als Freiheit.
Ohne weiter den Fehler zu begehen und mich in Überlegungen zu verlieren, greife ich die hochhackigen Schuhe, welche ich im Sand neben mir platziert habe. Ich würdige sie keines Blickes mehr, sondern hole nur weit aus und lasse sie in einem hohen Bogen in das Wasser platschen. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten spüre ich meine Mundwinkel zucken. Einmal wieder Barfuß gehen. So wie früher.
Entschlossen richte ich mich auf und schreite auf die Kletterwand zu. Heute braucht es keinen großen Sprung mehr, um die Sprossen zu erreichen. Ich schaffe es einige Meter weiter, ehe ich lachend in den noch immer von der Sonne erwärmten Sand plumpse. Ich glaube, ich werde mir noch ein Eis holen. So wie früher.
Mit zerzausten Haaren und von Grasflecken verdreckten Rock tänzele ich leichtfüßig zurück in Richtung Stadt, wobei mein Koffer über die Holzleisten hüpft.
Ich glaube, mein Arzt hat mir die falsche Diagnose gegeben, denke ich plötzlich, als sich die nächtlich beleuchtete Altstadt vor meinen Augen enthüllt. Zuvor schien der Zauber dieses atemberaubenden Ortes hinter einem Schleier verborgen gewesen zu sein.
Keine Krankheit droht meiner Gesundheit, sondern die Gesellschaft.

von Kitty, 18 Jahre

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