Meister Hilbert von Johannes Bielig

Meister Hilbert stand in der Werkstatttür und nahm noch eine Brise frische Luft von dem schwachen Wind, der um die Hausecke strich. Das Jahr ging zu Ende, und
eilige Arbeiten, die ein Handwerksmeister vor Jahren noch bis zum Fest erledigen musste, gibt es heute nur noch wenige Die Altvorderen sagten voraus: „Es riecht nach Schnee!“ Da Meister Hilbert schon viele Jahre mit seinem gebeugten Kreuz hinter sich gebracht hatte, sagte auch er aus Erfahrung: „Es riecht nach Schnee!“ Dabei hingen am westlichen Horizont schon tiefe Wolken und verdunkelten den Himmel. In dieser Jahreszeit erwartete man Schnee. Nachbar Krause, der die Gewohnheiten des Meisters kannte,
kam vorbei und sagte: „ Na, hast du schon den Hammer in die Ecke geworfen?“ Eine Redewendung, die er immer wiederholte. „ Nein“, antwortete Hilbert, „aber es dauert nicht mehr lange“.
Zu gleichen Zeit hielt ein roter PKW vor der Werkstatttür und ein junger Mann mit einem Bündel unter dem Arm stieg aus und fragte den Meister, ob er sich noch einen Patienten
vor dem Fest anschauen könne. „ Ja, komm gleich mit in die Werkstatt,“ sagte er zu dem Kunden. Meister Hilbert sprach alle gleich mit „Du“ an, das hatte sich in den vielen Jahren seiner Selbständigkeit so ergeben, Aus dem großen Bündel kam ein Schaukelpferd heraus.
Ohne Schwingen an den Füßen stand es wacklig auf dem Arbeitstisch. „Kann man hier noch etwas bis zum Weihnachtsfest machen?“, fragte der Kunde. „ Es ist ein Erbstück von meinem Urgroßvater und jetzt möchte ich es zum Weihnachtsfest für meinen Sohn unter den Christbaum stellen“. Mit leuchtenden Augen betrachtete der Meister das Pferd. Es sah nicht gut aus. Das Zaumzeug fehlte. Die Steigbügel hingen an eingerissenen Riemen vom Sattel herab. Am Hals hatten drei Einschüsse vom letzten Krieg das Fell zerrissen, und an der Mähne konnte man die vielen Stunden, die das Schaukelpferd den Kindern Freude bereitet hatte, ablesen. Mit innerer Begeisterung sagte der Meister dem Kunden zu, bis zum Fest ein brauchbares Geschenk aus den Pferderesten zu machen. Ja, das hatte er gelernt.
Schon am nächsten Tag begann er mit der Arbeit. Erinnerungen wurden wach. War es doch in den Jahren seiner Lehrzeit üblich gewesen, Weihnachtsgeschenke für Kinder bis zur letzten Stunde vor dem Fest zu fertigen. Heute geht man ins Kaufhaus. Doch das hier war anders. So ein altes Schaukelpferd war etwas Besonderes. An den folgenden Tagen sah es wie in einer Weihnachtsmannwerkstatt aus. Es wurde geklebt, gehämmert, genäht. Der Geruch vom frischem Leder, welches, in Streifen aufgeschnitten, auf der Tafel lag, breitete sich aus. Auf dem Ofen zischte und roch der alte Leimtopf. Ab und zu musste der Meister seine Arbeit unterbrechen. Seine Augen wurden vor Freude feucht. Es rührte ihn. Durfte er doch so einem ehrwürdigen Stück neuen Glanz verleihen. War es das letzte Mal? In Gedanken stellte er sich vor, wie das Kind am Heiligabend mit strahlenden Augen vor dem Pferd stehen würde und es mit seinen kleinen Händen streichelte. Die Arbeiten gingen voran. Der Sattel bekam eine rote Decke. Das Zaumzeug aus weißem Leder wurde vorsichtig um den Kopf gelegt und durch den Sattel ein starker Riemen gezogen, damit die kleinen Füße in den Steigbügeln festen Halt hatten. Die Mähne wurde aus einem Schaffell herausgeschnitten und neu befestigt. Sogar ein richtiger Zügel, an dem sich das Kind beim Schaukeln festhalten konnte, reichte vom Gebiss bis hinter den Hals des Pferdes. Leider gingen die Arbeiten bald dem Ende entgegen. Viele Male stand Meister Hilbert noch vor dem Schaukelpferd. War die Arbeit gelungen? Ja, sie war gelungen. Vor dem Fest holte der Vater das Pferd ab. Mit Bewunderung schaute er auf die Arbeit. War es das alte zerzauste Schaukelpferd? Mit heimlicher Freude erlebte Meister Hilbert, wie es den jungen Vater rührte und er sprachlos davor stand. Mit großer Vorsicht verstaute der Vater das Schaukelpferd in seinem Auto. Etwas wehmütig dachte Meister Hilbert noch einmal seine Arbeit, und schaute dem davonfahrenden Auto nach.

Johannes Bielig

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