Es wählt!
Das sollte mich jetzt nicht wundern. Ist ja ne gültige Telefonnummer. Meine. Meine Handynummer, die ich von meinem Handy aus anrufe.
Ich hab jetzt seit… was? 25 Jahren? Mobiltelefone. Erst diese ziegelgroßen Klumpen, dann immer kleinere und dann wieder größere. Taschencomputer. Mein Speicher für alles, was ins Hirn nicht mehr reinpasst. Manchmal denke ich, die Speicherkapazität im Hirn schrumpft. Untrainiert. Nicht mal meine eigene Handynummer weiß ich zuverlässig aus dem Kopf. „Man ruft sich selber ja so selten an“, sag ich immer, wenn jemand die Nummer haben will und ich sie nachgucken muss. Haha. Macht man nicht!
Ich habe mich in 25 Jahren nicht einmal selber angerufen! Eigentlich in 40 Jahren nicht. Aber vor diesen Handys habe ich eh niemanden angerufen. Damals bin ich einfach hingegangen. Entweder waren die Freunde da oder eben nicht. War auch keiner überrascht, wenn man plötzlich vor der Tür stand.
Es wählt. Ob da einfach ein Besetztzeichen kommt? Oder ‚the person you have called is temporarily unavailable‘? Die Mailbox?
„Ja Hallo?“
Was?
„Hallo! Wer ist denn da?“
„Ziegler. Und da?“
Ich muss mich verwählt haben. Man ruft sich selber ja so selten an.
Stille am anderen Ende. Rauschen.
„Meinhard ist hier. Yvonne Meinhard“
„Entschuldigung. Ich glaube, ich habe mich verwählt.“
Ich kenne die Frau ja nicht. Da macht es nix, wenn ich mich zum Obst mache. Also sage ich ihr, dass ich meine eigene Nummer anrufen wollte und:
„Das ist jetzt echt witzig – ich heiße nämlich auch Yvonne.“
„Mein Mädchenname ist Ziegler“
Oh das ist jetzt aber ein Zufall.
Ich lege auf und starre mein Telefon an. Suche meine Nummer im Speicher und tippe ‚anrufen‘.
„Ja Hallo?“
„Frau Meinhard?“
„Ja“
Das ist nicht die Leitung, die so rauscht: Das ist in meinem Kopf! Ich lege auf und starre wieder. Sage zu mir selber – laut und mit fröhlicher Stimme: „Das ist jetzt aber ein Zufall!“
So wirklich fröhlich klingt das allerdings nicht.
Meinhard. Stefan Meinhard. Meine Jugendliebe. Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht und ich dachte, ich wäre nicht bereit für so ein Leben. Familie, Einfamilienhäuschen, ein Meerschweinchen für die Kinder,… Die Ablehnung hat ihn getroffen und wir haben nur noch gestritten. Bis wir eingesehen haben, dass unsere Lebensentwürfe zu unterschiedlich sind. Die Beziehung ist zerbrochen. Was wäre gewesen, wenn ich eine andere Wahl getroffen hätte?
Yvonne Meinhard. Das ist ja wirklich mal ein Zufall!
Ich rufe mich vom Festnetz aus an. Das Handy klingelt. ‚Zuhause‘ steht auf dem Display. So habe ich die Nummer eingespeichert. Dazu ein Bild von meinem Liegestuhl auf dem Balkon. Ein Weinglas auf der Armlehne, die rote Katze fett und faul auf dem Polster. Zuhause.
Es ist halb vier. Ich hätte jetzt gerne nen Schnaps. Hab aber keinen. Nur Bier und Wein. ‚Kein Bier vor vier‘ sagt man. Blöd. ‚Kein Wein vor drei’n‘? Das passt! Reimt sich – also ist es wahr.
Ich nehme mein Weinglas und gehe auf den Balkon, balanciere es auf der Armlehne des Liegestuhls. Minka ist letztes Jahr gestorben aber ich mache immer noch diese Handbewegung zum Katze-verjagen, bevor ich mich setze.
Ich kann mir aber auch echt selber leid tun! Buh-huh. Ich habe nicht mal mehr ne Katze!
Was wäre gewesen, wenn…
Ich kann mich doch einfach fragen! Also ich kann Yvonne Meinhard fragen.
Ich wähle meine Nummer. Freizeichen.
„Leg nicht auf! Yvonne?“
„Ja. Entschuldigung. Das ist jetzt irgendwie irre aber… das ist meine Nummer und ich heiße auch Yvonne und hätte beinahe Stefan Meinhard geheiratet und…“
„Ja. Das ist irre aber ich kann da noch einen draufsetzen!“
„Wie das denn?“
„Ich wollte dich zurückrufen. Da habe ich auch mal meine eigene Nummer gewählt…“
„Und?“
„Na ja. Du bist nicht rangegangen. Aber Yvonne. Yvonne in München, die bei Pharmacorp arbeitet!“
Die Stelle! Die Stelle in München, auf die ich mich beworben hatte! Ich bin nicht zum Vorstellungsgespräch gegangen. Ich weiß noch, als die E-Mail mit der Einladung kam.
„Hast Du Dich da auch beworben?“
„Ja. Aber dann… na ja… ich bin geblieben. Und du?“
„Ja. Ich hatte die Einladung aber mit einem Mal schien München gruselig. Ich würde da nie Freunde finden. Und eine sächselnde Pharmavertreterin in Bayern?“
Am anderen Ende ein lautes Lachen.
„Genau! Das habe ich auch gedacht. Und Stefan hatte gerade den Laden übernommen. Da konnte ich ja nicht gehen. Ich habe mich immer gefragt, was wohl gewesen wäre… und ob Stefan nur eine Ausrede war, weil ich mich eh nicht getraut hätte. Aber Yvonne sagt, niemand hat sie ausgelacht. Im Gegenteil. Jeder wollte hören, wie es so war im Osten. Nur beim Bäcker und beim Fleischer – da musste sie immer zeigen, was sie haben will.“
„Ha! Das geht einem ja in Berlin schon so! Bereust du das jetzt? Dass du das nicht gemacht hast?“
„Nö. Läuft wohl alles gut in München aber auch mit fettem Dienstwagen und Dachterrasse scheint nicht immer die Sonne. Ich glaube, das habe ich mir gerade so erzählt…“
Wieder dieses sympathische Lachen.
„Und bei dir? Scheint da immer die Sonne?“
„Ganz und gar nicht. Aber eigentlich… doch. Also manchmal. Oft.“
Wir reden. Über Entscheidungen. Wendepunkte.
Stefan. Die Stelle in München. Das Auslandssemester, das ich nicht gemacht habe. Der Typ, der mir seine Telefonnummer gegeben hat und den ich nie zurückgerufen habe. Tausend kleine und große Entscheidungen fallen mir ein. Damals auf dem Dreimeterbrett. Ich hatte so nen Schiss! Bin die Leiter wieder runter und war bei allen unten durch. Das ganze restliche Schuljahr wurde ich immer als letztes in die Sportmannschaft gewählt. Ute hat mich nicht zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. Meine beste Freundin Ute, der ich mit einem Mal peinlich war.
Was, wenn es mit jeder dieser Entscheidungen eine andere Version von uns gibt? Eine, die eine andere Wahl getroffen hat? Und jede von uns kann eine andere anrufen. Die, mit der Entscheidung, die uns jeweils am Bedeutendsten scheint.
„Du bist so still?“
„Ich glaube, ich muss da erstmal drüber nachdenken… alleine“
„Rufst Du mich wieder an?“
„Ja klar“, sag ich. „Bis denne.“ Wie man das so sagt zu Kumpels am Telefon.
Die wichtigste Entscheidung, die Wahl, die wir getroffen haben und bei der wir uns immer fragen, ob es die richtige war. Ob wir uns ver-wählt haben.
Für mich ist das wohl Stefan. Oder einfach dieses Leben im Einfamilienhaus. 2,5 Kinder. Jedes Jahr drei Wochen Urlaub entweder an der Ostsee oder auf Teneriffa. Hypotheken, geleastes Auto, alles geplant bis zur Rente.
Sicherheit. Vertrautheit. Liebe.
Mein Handy fällt mir runter und knallt auf den Holzboden. Mist! Riss im Display. Ich mache die Fotos auf und erwarte beinahe, Bilder von Stefan zu sehen und von einem Minivan und von… Meerschweinchen.
Oder ein Selfie in fröhlicher Runde im Hofbräuhaus. Oder mit Ute.
Aber da ist nur die Paddeltour auf der Elbe letztes Wochenende. Mein kleiner Laden nach dem Umbau. Was, wenn ich mich DAS nicht getraut hätte?
Ich habe mir gar nicht erzählt, dass die Sonne auch hier oft scheint. Meistens sogar.
Ich wähle meine Nummer.
Besetzt.
Irina Böhme